Von den Deutschen habe ich mehr erwartet!

Von den Deutschen habe ich mehr erwartet!

Diesen Satz höre ich sehr oft in den letzten Tagen und zwar von meiner Mutter! Fast 84 Jahre alt, eine ehemalige Gastarbeiterin für das aufstrebende Deutschland! 1969, das Jahr der amerikanischen Mondlandung und das Jahr der Migration unserer Familie nach Deutschland. In Relation gesetzt für beide eine ähnliche Distanz! 

Berlin, Moabit, Telefunken war ihr Landeplatz! Auf Gesundheit und Körpermaße gecheckt im Gastarbeiterprogramm, dann für gut befunden, um bei Telefunken am Band zu arbeiten. Ein Vorbereitungsfehler war im System enthalten. Alle diese Gastarbeiter sprachen kein Deutsch. Der längere Aufenthalt war nicht vorgesehen. Kurze Stippvisite im Deutschen Kosmos, dann wieder ab nach Hause, wenn nicht mehr gebraucht. Das war eine glatte Fehleinschätzung! Aus wenigen Jahren wurden Jahrzehnte, vier Generationen! Meine liebe Mutter hat für uns alle den Grundstein gelegt. Eine mutige Frau! Hat ihr wirtschaftliches Schicksal in die Hand genommen und einen sehr beherzten Schritt in  ihre, unsere Zukunft gewagt. Viele Jahrzehnte hat sie Made in Germany unterstützt und die Deutschen schätzen gelernt. Sie hat sie sprachlich nie so richtig verstanden, beständig ihre Vorurteile gepflegt. Aber das beruhte ja auf beiderseitigen Unwissen. Lange haben wir die Deutschen nicht verstanden und sie uns Türken nicht. Das hat meine Mutter aber so nie hinterfragt, das war eben so. Wir hatten unsere türkische Community, unsere kleine Parallelwelt. Konnten sonntags im Maxim-Kino, auf der Turmstraße, immer türkische Filme gucken. Unser sonntäglicher Familienausflug. Hatten viele türkische Familien um uns, denn mein Vater kam so etwa vier Jahre später nach und blieb durch seinen Job im türkischen Konsulat immer unter  unseren Leuten. So war unser Kokon perfekt organisiert. Die Welt ins Deutsche Ausland war in der Fabrik und durch uns Kinder erschlossen. Auch wir wurden nach und nach in dieses Deutsche Wirtschaftswunder geholt. Ich als erste und jüngste und hatte somit die besten Startchancen. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar! Meine Mutter hat zwar nicht die beste Schulbildung, musste ungefähr in der 10. Klasse abbrechen, um zu heiraten, so waren eben die Zeiten in Anatolien in den 50er Jahren. Ich persönlich kenne nur vier Ausnahmen als Frauen, die in diesen Zeiten studiert, Karriere gemacht und drei davon nie geheiratet haben: Die Tanten meines Vaters. Aber diese verdienen eine eigene Geschichte! 

Meiner Mutter war ein klassischer Bildungsweg nicht möglich, aber sie hatte immer eine sehr gute Handlungsintelligenz. Und diese sagte ihr: „Guck dir die Gesellschaft an und nehme das Beste daraus!“ Sieh sah, dass der beste Weg über die Bildung führte! Und diesen Weg  mussten wir durchschreiten. Bildung war oberste Priorität. Ohne wenn und aber! In einem meiner Schulzeugnisse stand: „Selma schwatzt sehr viel mit ihren Tischnachbarn“ und „ ihr Lesevermögen liegt über dem Durchschnitt.“

Das mit dem Darüber und Durchschnitt hat meine Mutter nicht verstanden! Also musste es schlecht sein und geübt werden. Immer wieder wurde ich ermahnt zu üben, ohne Gnade. Ich habe Szenen im Kopf wo ich einfach über den Büchern eingeschlafen bin. Das Lesen wurde einfach noch besser, aber das Schwatzen blieb kontinuierlich auf meinen Zeugnissen! Dagegen gab es wohl kein Mittel. 

Sie sah für uns keinen anderen Weg als Bildung, um in dieser Gesellschaft mithalten zu können. Ihr tägliches Credo war: „Du willst doch nicht am Band stehen, wie ich!“ Diesen Weg hat sie für mich mit aller Energie verteidigt und geebnet. Ach wäre ich noch Ärztin geworden und nicht Ingenieurin, dann wären ihre Träume in Erfüllung gegangen. Sie hat sich aber mit meinem Weg versöhnt und ist im Großen und Ganzen zufrieden mit meinem Werdegang. Nur mit den Deutschen kommt sie in der aktuellen Krise nicht so klar! Ihr tägliches Fernsehen und die unsäglichen Nachrichten über das Coronavirus aus aller Welt kann sie nicht akzeptieren! Sie versteht einfach nicht, warum diese schlauen und fleißigen Deutschen immer noch kein Mittel gegen das Virus gefunden haben. 

Meine Mutter setzt auf die Wissenschaftler aus Deutschland! Also bitte liebe Forscher gebt euch Mühe und enttäuscht einen eurer größten Fans nicht! Meine Mutter glaubt ganz fest an euch! 

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