Wie schnell kann doch Vergangenheit entstehen!
Gemeint ist nicht die Vergangenheit, die sich die Zeit vornimmt. Nicht die Ereignisse und Erlebnisse die langsam zermürbt werden von der zeitlichen Distanz, sondern wie wir von einem Tag auf den anderen Fakten schaffen und alles handgemacht in die Vergangenheit befördern.
Gerade habe ich an eine lustige Situation gedacht, die sich auf unserer nicht besonders schönen Einkaufsstraße, der Turmstraße in Moabit, ereignet hat. Es war etwas, das mit Menschenmengen und Gewohnheiten zu tun hatte. Aber binnen weniger Tage ist dieser Anblick in ein Verbot katapultiert worden. Was passiert gerade mit uns? Aus meiner Kindheit kenne ich ein Moabit, eine Turmstraße, bunt, mit vielfältigen Geschäften. Unter Freundinnen kommen wir ab und an ins Schwärmen darüber, was wir so alles hatten auf der Turmstraße: mindestens sagenhafte drei Schuhläden, Lederwaren, Karstadt gleich zweimal, Ebbinghaus, Boeldicke, schöne Juweliere, Kinos. Wirklich schöne Starßenfeste. Ach es war eine so schöne Einkaufsmeile!
An diesem Zustand hat der Zahn der Zeit genagt. Nach und nach hat sich fast jedes Geschäft verabschiedet, eine trostlose, farblose, ideenfreie Ansammlung vieler Geschäfte ist uns über Jahre erhalten geblieben. Man fragte sich: „Wie viele Backshops und billig Geschäfte braucht Moabit eigentlich?“ Doch auch hier wurde es mit der Zeit besser, nicht übermäßig schnell, aber eine zaghafte Entwicklung war zu spüren. Kulinarisch kann man hier inzwischen gut überleben. Unsere Markthalle ist eine feine Oase vieler kleiner Geschäfte geworden und eine Mall kam hinzu. Berlin brauchte nicht wirklich eine weitere Mall, aber wir Moabiter brauchten sie! Diese zaghafte Entwicklung ist gerade wieder gefährdet. Was Jahre gebraucht hat wieder etwas interessanter zu werden, ist innerhalb von wenigen Tagen kurz davor wieder zerstört zu werden. Es waren keine Jahre mit Wirtschaftskrisen nötig, keine langwierige Gentrifizierung. Ein unsichtbares Virus hat alles viel schneller in den Griff bekommen, wie alles auf der ganzen Welt.
Ja ja, es hört sich jetzt alles an wie ein Moabit-Blues, so ist es auch!
Liebes Coronavirus lange bevor es dich gab, müssen wir mit einem Virus infiziert worden sein, das stärker ist als du, deutlich länger hält und ganz sicher vererbt wird: Einmal Moabiter immer Moabiter! Keiner zieht hier gerne weg, und wenn doch, dann versucht er immer zurückzukommen! Dieses Verhalten ist nicht erklärbar! Es gibt schönere Stadtteile, aber Moabit hat was! Es ist ein so schönes Dorf mit wunderbaren Ecken, die Spree schlängelt sich durch, der Tiergarten ist unser, Ku’damm, Friedrichstraße super erreichbar. Man kennt sich in unserem großen Dorf, grüßt sich weil man sich schon ewig kennt. Die meisten von uns haben diesen Teich nie verlassen, oder leben lange genug hier, um alles andere untergeordnet zu haben: „War da noch was außer Moabit?“
So viele Phasen haben wir überstanden: zerstört, schön, hässlich, wieder aufblühend! Also schaffen wir auch dich Corona!
Moabit, wir packen das schon! Liebe Café- und Restaurantbesitzer, alle Gewerbetreibenden, nicht aufgeben bitte!
Wir kommen wieder!